Zu den Stärken aller bisherigen Tagungen zur Genossenschaftsgeschichte gehört es, Menschen zusammen- und einander näher zu bringen. Am imaginären Lagerfeuer erzählte man sich Geschichten über Genossenschaften, die auch Erinnerungen und Gefühle wecken und dadurch auch zum Lernen für die Zukunft anregen. Das Format vereint seit 2006 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und Vorstände von Genossenschaften und Spitzenorganisationen gleichermaßen mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen.
Das war auch 16 Jahre später so: Neben der Vergangenheit gab es überraschend viel Zukunft. Das historische Thema der Tagung umriss Michael Stappel, Volkswirt bei der DZ Bank. Er begann seine geschichtliche Zeitreise in Potsdam, wo Hermann Schulze-Delitzsch 1861 mit dem Centralkorrespondenzbureau den Grundstein für das genossenschaftliche Verbandswesen legte. Die Reise endete mit der Neugliederung der Traditionsstrukturen nach 1972. Dr. Claudia Döring vom Deutscher Raiffeisenverband und Dr. Ludwig Veltmann vom Mittelstandsverbund setzen den Weg fort und erweiterten ihre warenwirtschaftlichen Sparten in die Zukunft.
Dr. Döring stellte den rasanten kulturellen Wandel der Agrargenossenschaften und ihres Genossenschaftsverbands heraus, während Dr. Veltmann betonte, dass die Kernidee des Genossenschaftswesens "ein echter Zukunftsfaktor für den Mittelstand" sei. Zugleich sei der gewerbliche Mittelstand ein Garant für eine demokratische und freiheitliche Wirtschaftsordnung, so Dr. Veltmann.
Die zukünftigen Aufgaben der genossenschaftliche Kreditwirtschaft umriss Dr. Ruben Lanzerath vom BVR. Er beschrieb das Ziel der Genossenschaftsbanken, ein Ökosystem regionaler Prägung aufzubauen. Dabei sollen die bestehenden Kerngeschäftsfelder - etwa Bauen und Wohnen - modernisiert werden sowie neue Geschäftsfelder - beispielsweise Gesundheit und Pflege - erschlossen und dabei geeignete Kooperationen in den Regionen eingegangen werden. Auch in Zukunft seien starke, dezentrale und unabhängige Genossenschaftsbanken notwendig, betonte Dr. Lanzerath.
Starke Kreditgenossenschaften seien gerade in Krisenzeiten wichtige Stützen für die Wirtschaft und das Sozialgefüge vor Ort, so Dr. Thomas Horn vom GIZ. Schon vor 50 Jahren profitierten die Volksbanken und Raiffeisenbanken von der Verbändeneugliederung. Am Beispiel der Volksbank Mittelhessen zeichnete Dr. Horn die Entwicklung der Primärinstitute zu regional bedeutenden Playern nach.
Dezentrale Genossenschaften sind ein Spiegelbild unterschiedlicher Geschichtslandschaften in Deutschland. Kein Wunder also, dass Dr. Silvia Gallowsky, vom Historischen Verein bayerischer Genossenschaften feststellte: "In Bayern war alles anders." Denn die Genossenschaften im Freistaat setzten die Verbändeneugliederung erst 17 Jahre später um - durchaus mit Widerwillen. Im Nachbarland Österreich arbeiten gewerbliche und ländliche Genossenschaften bis heute in getrennten Organisationen. Die kulturelle Verwandtschaft zu Deutschland ist allerdings unverkennbar. Justus Reichl, Generalsekretär-Stellvertreter des Österreichischen Raiffeisenverbands, kritisierte, dass von den etablierten Genossenschaften zu wenig für Neugründungen getan werde, auch wenn sie in Österreich zahlreicher als in Deutschland seien.
In Italien gibt es mehr etablierte und auch neue Selbsthilfeorganisationen. Der Südtiroler Wirtschaftspublizist und Betriebswirt Dr. Oscar Kiesswetter berät sie in der Start-up-Phase. Dort existiert historisch bedingt kein Sozialstaat. Sozialgenossenschaften versuchen ihn weitgehend zu ersetzen. Erst seit kurzem ist es den italienischen Verbänden gelungen, Gegensätze aus dem 19. Jahrhundert zu überwinden und gemeinsame Strukturen zu bilden. In Deutschland gelang dies bereits 1972 mit der Gründung des DGRV, dessen Aufgaben und Entwicklung Dr. Andreas Wieg, Abteilungsleiter Vorstandsstab des DGRV, nachzeichnete.
Der "Reichsverband für das Deutsche Genossenschaftswesen" war ein gescheitertes Einheitsprojekt aus der Zeit des Nationalsozialismus. Der Historiker Dr. Holger Martens von der Universität Hamburg beschrieb dieses Vorhaben als Gleichschaltungsoffensive ehrgeiziger NS-Karrieristen, das letztendlich nicht von Erfolg gekrönt war.
Digitales Schlendern durchs Depot
Das zweite Hauptthema der Tagung umriss Dr. Chantal Eschenfelder vom renommierten Städel Museum in Frankfurt am Main. Mit ihrem Vortrag zur digitalen Erweiterung von Museen legte sie die Basis zur didaktischen Ausrichtung der Tagung: Wie vermittelt man erfolgreich Wissen an die breite Öffentlichkeit? Sie überraschte mit der Kernaussage, dass der Ausstellungsbesuch nicht digital nachgeahmt werden solle. Stattdessen plädierte sie dafür, mit digitalen Mitteln bislang in Lagerräumen verborgene Schätze im Internet erlebbar zu machen.
Bei den Genossenschaften werden bisher ausschließlich analoge Präsentationsformen angeboten. Max Martens von der Hamburger Historiker-Genossenschaft berichtete über in Gehwege eingelassene Messingtafeln, die an Opfer des Nationalsozialismus erinnern. In den Niederlanden gibt es das genossenschaftliche Rabomuseum. Jan van der Meer stellt die sehr modern und intuitiv gestaltete Ausstellung in Utrecht vor - genossenschaftliche Wurzeln und Werte werden hier großgeschrieben.
Im "Forum Genossenschaftsgeschichte online" diskutierten anschließend die Teilnehmer mit Dr. Silvia Gallowsky, Dr. Thomas Keiderling und Jan van der Meer über digitale Ausstellungsstrategien. Dr. Gallowsky organisiert in Bayern Wanderausstellungen, Dr. Keiderling ist Leitender Kurator des Schulze-Delitzsch-Hauses in Delitzsch.
Die Diskussion drehte sich dann jedoch vornehmlich um analoge Geschichtsdarstellung. Doch bei aller Freude über die Rückkehr zum Analogen nach der Coronapandemie muss man sich vergegenwärtigen, dass sich die Welt gerade in riesigen Schritten verändert. Kunden sind heute seltener in der Filiale, dafür häufiger im Internet unterwegs. Und der repräsentative Raum, in dem bequem zehn Stelltafeln einer historischen Ausstellung präsentiert werden können, ist bei Genossenschaften selten geworden. Freilichtmuseen und sogar Einkaufszentren wurden als Alternativen genannt. Die Diskussionsrunde wollte eher am Analogen festhalten, obwohl gerade bei den Genossenschaften die Digitalisierung mit Riesenschritten voranschreitet. Außerdem surfen inzwischen nicht nur Youngsters, sondern auch Best-Ager problemlos im Internet.
Es ist also zwingend notwendig, die Weichen für ein digitales genossenschaftliches Geschichtsangebot zu stellen. Man spricht gern von genossenschaftlichen Werten und Traditionen. Es wird Zeit, sie auch im Internet historisch herzuleiten.